Die Handschrift mit dem Titel Komödia od Kristusouiga Terplinja Katiro so nekidei na te ueliki zhetertig inu na te uelikonozhni Pondelik v Kappli spilali (Komödie vom Leiden Christi, die einst am Gründonnerstag und am Ostermontag in Kappl gespielt wurde), in der Literatur bekannt als Eisenkappler Passionsspiel, wurde 1899 vom Kärntner slowenischen Historiker Stefan Singer gefunden. Der erste und lange Zeit einzige Forscher, der sich mit dem Eisenkappler Passionsspiel (EP) befasste, war France Kotnik, der die Entstehung der Handschrift mit Ende des 18./Beginn des 19. Jahrhunderts datierte. Jože Koruza verband das EP als erster mit der slowenischen Passionsspieltradition, die 1615 in einer für die Bevölkerung der Umgebung bestimmten Aufführung der Passio Christi in der lingua vulgaris bei der Expositur der Jesuiten beim Stift Eberndorf greifbar wird.
Das Passionsspiel wurde am Gründonnerstag am Vormittag und am Abend sowie am Ostermontag aufgeführt. Unsere Studie fußt auf der diplomatischen Abschrift und der kritischen Ausgabe des Textes, die vom Verfasser gemeinsam mit Matija Ogrin in elektronischer und gedruckter Form für das Forschungszentrum der Slowenischen Akademie der Wissenschaften (ZRC SAZU) in Ljubljana erstellt wurden.
Grabers These vom EP als »Ausläufer« des Kärntner deutschen Passionsspiels erweist sich anhand des konkreten Texvergleichs als ein durch Fakten nicht zu belegendes ideologisches Konstrukt, das auf der hegemonialen Sicht der Beziehung zwischen der deutschen und der frühen slowenischen Literatur aufbaut, die für die ältere germanistische und ältere deutsche ethnographische Literatur charakterisch war.
Im Gegensatz zur Graberschen These gingen wir von der Annahme aus, dass das EP selbständig in einer polysemiotischen und sprachlich polyvalenten alpinen, vielleicht auch mitteleuropäischen mündlichen und schriftlichen Tradition des Gedenkens des Todes Christi eingebettet ist. In diesen Rahmen fallen neben den Passionsspielen auch bildnerische Darstellungen (vor allem auf Kreuzwegen), kirchliche Rituale und Bräuche sowie die Textüberlieferung im Volkslied. Durch einen Vergleich des EP mit den verfügbaren slowenischen (das Passionsspiel von Škofja Loka/Bischoflack und das Passionsspiel von Andrej Schuster-Drabosnjak aus dem Jahre 1841) und deutschen Spieltexten (Bozner Passion, Passionsspiele aus Admont und St. Lamprecht, das Mürztaler Passionsspiel, die Kindberger Passion, die Passionsspiele aus St. Georgen bei Murau und aus Altenmarkt im Gurktal sowie schließlich die in den Kärtner Volksschauspielen von Graber (1923) veröffentlichte Kompilation von 12 deutscchen Passionsspielen) konnte nachgewiesen werden, dass von den Gestaltern des EP im Einklang mit der eigenen ästhetischen Orientierung und der angenommenen Rezeptionsfähigkeit des Zielpublikums die adäquatesten Elemente aus dem Textrepertoire der Passionsspiele im Alpenraum verarbeitet wurden.
Der Text des EP wurzelt sowohl mit dem eigentlichen Passionsspiel als auch mit dem Nachspiel von der Seelenwaage in der jesuitischen Spieltradition zu Beginn des 17. Jahrhunderts und wurde durch die »Reinigung« des Textes zur Zeit des Josephinismus im 18. Jahrhundert abgeschlossen. Aufgrund der zahlreichen Fehler und Unzulänglichkeiten sowie der unbeschriebenen Lücken und Seiten ist zu schließen, dass die Handschrift das Produkt eines längeren Prozesses war und in ihrer Schlußphase aus verschiedenen schriftlichen Vorlagen, wohl unterschiedlichen Rollenheften, zusammengetragen wurde. Vom Schreiber wurde dabei zunächst der Platzbedarf für die einzutragende Dialogpassage abgeschätzt und diese dann schrittweise vom Schreiber selbst oder von anderen Personen eingetragen. Hatte sich der Schreiber dabei jedoch verschätzt, blieb nach erfolgter Eintragung noch ein unbeschriebener Platz frei.
Auf der formalen Ebene weist das EP schon auf den ersten Blick zwei unterschiedliche Strukturen auf. Für den ersten Teil der Vormittagsvorstellung des Gründonnerstags mit dem Titel Ta ponižna pristova Kristusova (die demütige Hofstatt Christi) und für den überwiegenden Teil der Repliquen der biblischen Protagonisten in den späteren Teilen dieser Vorstellung ist eine ungereimte und nicht rhythmisierte Prosastruktur charakteristisch, der übrige Teil ist rhythmisiert und gereimt. Die ins Auge fallenden Ähnlichkeiten der Prosastrukturen mit den biblischen Texten legen die Hypothese nahe, dass die ungereimten Passagen unmittelbar einem biblischen Text entnommen wurden, während für die gereimten Teile des EP die Textvorlagen in der mündlichen oder schriftlichen Passionsspieltradition zu suchen sein werden.
Die Dramatisierung der Evangelientexte wurde mit Hilfe von drei Verfahren durchgeführt:
Als Quelle bieten sich die Perikopen an, die unter dem Titel Evangelija inu listovi (Evangelien und Episteln) in zahlreichen Ausgaben erschienen sind. Zum Vergleich wurden die Ausgaben von Schönleben (1672), Hipolit (1715), Paglovec (1741), Pohlin (1772), Gutsman (1780) sowie Japelj (1787) und Japelj (1806) herangezogen. Ergänzend dazu wurden die Übersetzungen von Primus Trubar und Jurij Dalmatin sowie die derzeit gültige Standardübersetzung mit Hilfe von biblija.net nachgeschlagen.
Durch eine vergleichende Textanalyse konnte festgestellt werden, dass die Perikopen bis Paglovec (1741) jene Textgrundlage darstellen, in der die Vorlagen des EP zu verorten sind. Mit Pohlin (1772) und Gutsman (1780) stimmt das EP nur in jenen Fällen überein, in denen diese beiden Autoren die ältere katholische Tradition fortsetzen.
Allein die Tatsache, dass das EP im Gegensatz zu den Kärntner deutschen Passionsspielen aus drei Aufführungen besteht, zeugt von ihrem relativen Alter. Bei den Kärntner deutschen Passionspielen ging diese Dreiteiligkeit spätestens im 17. Jhdt. verloren. Die einzige Parallele ist im Bozner Passionsspiel aus dem Jahre 1495 zu finden.
Näher an der älteren Tiroler als an der Kärntner Überlieferung ist auch das Zählen der dreißig Silberlinge des Judaslohnes. Die dialogisch konzipierten Auszählreime stimmen nicht mit der monologisch konstruierten Kärntner deutschen Tradition, sondern mit den ebenfalls dialogisch konzipierten Passagen im Bozner Passionsspiel überein.
Der älteste Teil des EP dürfte zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden sein. Zu diesem Kern zählen die Beurlaubung Mariae, der Kerker des Pilatus und der Monolog des Todes.
Das Motiv der Beurlaubung Mariae war seit dem 15. Jh. vor allem in der bildenden Kunst – im slowenischen Siedlungsgebiet auch in der mündlichen Volksüberlieferung – verbreitet. Der Kerker des Pilatus weist die ältere Ikonograpie mit Christus auf dem Dreikant auf, die im sogenannten geheimen Leiden Christi in der Volksfrömmigkeit des 17. und 18. Jahrhunderts zu finden ist: Christus wird eine Kette um den Hals gelegt, mit der er an eine Säule gefesselt wird. Die Szene im Kerker des Pilatus beinhaltet auch einen geschickt komponierten Trialog zwischen dem Engel, dem Ersten Juden und Christus, der die Improperien popule meus der Karfreitagliturgie rezitiert.
Der Monolog des Todes im EP ist unter allen analysierten, nicht nur slowenischen sondern auch deutschen Texten die vollständigste literarische Gestaltung der Personifikation des Todes. Er weist inhaltlich einige Ähnlichkeiten mit dem Škofjeloški pasijon/Passionsspiel von Bischoflack auf und erinnert an die Darstellung des Totentanzes in der Kirche von Hrastovlje.
Ein beredter Beweis für die selbständige und unmittelbare Übernahme der mitteleuropäischen Passionsspielüberlieferung ist das Motiv des Soldaten Porphyrius, der die Peiniger Christi verjagt. Das Motiv scheint zuerst in den Visionen (Revelationes) der heiligen Birgitta von Schweden (1302/03–1373) auf und wurde in der Passionsliteratur vom Hagiographen Michelangelo Carraciolo, besser bekannt als Simon de Napoli, in seinem Orologio della Passione aufgegriffen. Als einziges deutsches Passionsspiel, in welchem das Porphyriusmotiv aufscheint, gilt die Kindberger Passion aus dem Jahre 1756. Da die Figur des Porphyrius im EP konsequenter in das Spielgeschehen integriert wurde als ín der Kindberger Passion, scheidet diese als Vorlage aus. Deshalb gehen wir von der Annahme aus, dass das Motiv entweder am Ende des 17. Jahrhunderts aus einer der zahlreichen Ausgaben der Visionen der hl. Birgitta von Schweden oder zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus dem Orologio della Passione von Michelangelo Carraciolo übernommen worden sein muss. In beiden Fällen muss die Übernahme in einem Umfeld geschehen sein, das über eine entsprechende Bibliothek verfügte. Dafür kommen nur das Klagenfurter Jesuitenkolleg oder das Stift Eberndorf in Frage, das zwischen 1604 und der Auflösung des Jesuitenordens im Jahre 1773 von diesem betreut wurde. Bei eben dieser Expositur des Jesuitenordens ist auch 1615 die eingangs erwähnte Aufführung der Passio Christi in der lingua vulgari ausgewiesen.
Die barocke Ästhetik des Grobianismus ist bei der Gestaltung der Figuren der Soldaten in den Szenen der Geißelung, der Dornenkrönung und des Würfelspiels spürbar. In die erste Periode des barocken religiösen Theaters werden der Dialog zwischen dem Soldaten und der Magd Dinna einzuordnen sein. Die Dialoge und die Etikette, die in der Szene mit Pilatus und seiner Frau spürbar werden, tragen unverkenbare Züge des Rokoko.
Der josephinistische Rationalismus verursachte sowohl in der Tiefen- als auch in der Oberflächenstruktur die letzten Änderungen in der Textfassung des EP. Das Hauptangriffsziel der kirchlichen und weltlichen Behörden waren die »anstößigen« Szenen mit Maria Magdalena als Sünderin, die Ausschweifungen der Rollenträger der Soldaten und der beiden Schächer sowie die Drastik einiger Szenen. Vom letzten Gestalter und wohl auch Hauptverfasser der Handschrift wurden in einer Art Selbstzensur die Szenen mit der Sünderin Maria Magdalena und die Rollen des linken und rechten Schächers gestrichen. Die Spuren dieses Eingriffs sind in der Inkohärenz der Vorrede der Freitagabendvorstellung, in der Veronika und Maria Magdalena verwechselt wurden, spürbar, die Streichung der Figuren der beiden Schächer wurde durch die Neuorganisation der Sieben letzten Worte Christi kompensiert.
Diese Eingriffe legen die Hypothese nahe, dass die Schlußversion des EP zwischen der Mitte und dem Ende des 18. Jahrhunderts entstanden sein muss und dass das EP eine lebendige Theatertradition in Eisenkappel widerspiegelt. Jedenfalls wurde das Passiosspiel, wie aus einem Aufkleber am Umschlag folgt, im Jahre 1800 noch aufgeführt.
Das Motiv für die Aufführung und Aufzeichnung des EP muss nicht – wie Jože Koruza in seiner Argumentation für die Autorenschaft von Matevž Mavc vermutete – im Gedankengut der slowenischen Wiedergeburt liegen. Im Gegenteil. Das Beharren auf der konservativen Textsorte eines Passionsspiels spricht eher für die Autorenschaft eines Traditionalisten wie Valentin Brunner, der 1765 zunächst als Kaplan, von 1781 und bis zu seinem Tod am 20. November 1809 als Pfarrer in Eisenkappel wirkte.
Die Aufführung des Passionsspieles im Jare 1800 ist das letzte Glied in der Entwicklung dieses Textes, die mit größter Wahrscheinlichkeit bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts zurückreicht. Im Jahre 1937 wurde das Passionsspiel auf Initiative des Pfarrers Aleš Zechner wieder aufgeführt und in die Gajica, die neuere slowenische Orthographie, transkribiert. Trotzdem galt der Text des Eisenkappler Passionsspiels bis zur Wiederauffindung der Originalhandschrift in den 80-er Jahren des vorigen Jahrhunderts als verschollen.